Grenzerfahrungen
Für 10 Tage habe ich ab dem 6. März gemeinsam mit einem anderen Priester den Bischof und die Kirche von Mauretanien besucht und dort in vielfacher Weise in einer ganz anderen Welt gelebt. Auch Corona war weit weg. Doch dann wurde es eng mit den Rückflügen. Den vorletzten nach Europa haben wir soeben noch erwischt. Bei unserer Rückkehr hatte sich Deutschland durch Corona dramatisch verändert. Der Rückflug endete mit der Empfehlung für eine freiwillige Quarantäne. Allein in der Wohnung. Keine Termine. Aber man darf auch nicht raus. Die Einkäufe werden vor der Tür abgestellt. Man kann nur warten, schreiben, lesen, telefonieren…
Quarantäne, Corona, geschlossene Schulen, Kindergärten, Geschäfte und Spielplätze. Die Kirchen können nur für das private Gebet genutzt werden. Alle Gottesdienste sind über Wochen hinweg abgesagt. Das gilt sogar für die Feier der Kar- und Ostertage. Das war noch vor einigen Wochen undenkbar. Notaufnahmen für Kranke werden eingerichtet. Vielleicht kommt sogar noch eine Ausgangssperre. Noch vor kurzer Zeit wäre das alles undenkbar gewesen. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagen viele. Von der größten Herausforderung unseres Landes seit dem 2. Weltkrieg spricht die Kanzlerin und redet den Menschen in Deutschland ins Gewissen, dass sie trotz der schwierigen Lage Vernunft walten lassen sollen.
Das, was wir zurzeit erleben, ist eine Grenzerfahrung. Manchmal stoßen wir auch an anderen Stellen in unserm Leben an Grenzen. Grenzerfahrungen machen wir in glücklichen Momenten, wenn das Leben gelingt, aber noch mehr auch dort, wo uns Sicherheiten genommen werden. Grenzerfahrungen verändern das Leben. Wenn wir in Grenzbereichen waren, ist nachher meist nichts mehr so wie es vorher einmal war. Solche Erfahrungen fordern uns heraus und prägen uns. Im Leitwort für das so lange geplante Glaubensfestival, von dem zurzeit auch niemand sagen kann, ob und wie es durchgeführt werden kann, ist die Zusage, die Gott dem Mose aus dem brennenden Dornbusch gegeben hat: „Ich bin da!“
Die Gottesbegegnung des Mose beginnt für ihn mitten im Alltag. Und gleichzeitig sagt die Bibel, dass Mose die Herde seines Schwiegervaters Jitro über die Grenze der Steppe hinaus getrieben hat. „Über die Grenze hinaus“ (Ex 3,1). Ist das nur eine Ortsbeschreibung oder ein Hinweis, dass die Bibel auch hier von einer Grenzerfahrung berichtet. Auf jeden Fall wird die Grenze dessen, was Mose sich vorstellen kann, überschritten. Da brennt ein Dornbusch und verbrennt doch nicht. Die Neugier treibt Mose dazu, dass er sich die Sache anschauen will, bis er aus dem Dornbusch SEINEN Namen hört. Das ist der Beginn einer Gottesbegegnung. Mose erfährt den Gott der Bibel als einen Gott, der von sich sagt, dass er das Elend der Menschen kennt und sieht. ER hört das Gebet und auch die Klage der Menschen und will ihre Situation wenden. Freiheit und Leben will Gott dem Menschen schenken. Und schließlich stellt Gott sich dem Mose vor als der „Ich bin da“. Dieser Name ist gleichzeitig ein Programm und eine unwiderrufliche Zusage Gottes an den Menschen. Diese Zusage steht seit der Grenzerfahrung des Mose über dem Leben des glaubenden Menschen: „Ich bin da.“ „Ich kenne dich und dein Elend und ich will dir Leben und Freiheit schenken.“ Mose geht verändert aus seiner Grenzerfahrung heraus. Aus dem Hirten, der sich aus Furcht vor dem Pharao versteckt hatte, wird ein Mensch, der im Namen Gottes zum Anführer seines Volkes wird. Und immer wieder wird er sich in Erinnerung rufen müssen, dass Gott ihn kennt, beim Namen ruft und ihm zusagt: „Ich bin da.“ Niemand von uns weiß, was die nächsten Wochen und Monate uns noch bringen werden. Niemand kann sagen, ob und wie sich die Welt verändert hat und wie wir uns verändert haben. Wir lebten in dem Glauben, dass wir die Welt im Griff haben und dass eigentlich alles erklärbar und machbar ist. Werden wir dieses Vertrauen wiederfinden? Oder werden wir aus der Grenzerfahrung verändert, weil bescheidener hervorgehen, weil wir erlebt haben: Es gibt Dinge, die wir für lebensnotwendig hielten und von denen wir gespürt haben, dass wir sie nicht wirklich brauchen.
Bleiben wir als Christen einander verbunden und stärken wir uns gegenseitig im Gebet und durch unsere Solidarität in dem Vertrauen, dass auch in unserer Zeit die uralte Zusage Gottes über unserem Leben steht, der sagt: „Ich bin da!“
In dieser Hoffnung grüßt Sie alle aus der Quarantäne
Pastor Wilhelm Buddenkotte